Warum heißt der Film Als Hitler das rosa Kaninchen stahl?

Während Erwachsene dazu neigen, unter der Last der Vergangenheit und den Ungewissheiten der Zukunft zu leiden, gehen Kinder bis zu einem gewissen Alter oft als begnadete Situationisten durchs Leben. Das, was mit dem Begriff der „kindlichen Unschuld“ nur unvollständig umrissen wird, ist auch die Gabe, die Gegenwart als alleinigen Richtwert anzuerkennen. Denn nur aus dem Hier und Jetzt kann das Kind jene Eigenerfahrungen beziehen, die für seine Persönlichkeitsbildung wichtig sind. Diese Fokussierung geht mit dem Prozess des Erwachsenwerdens zunehmend verloren. Das, was war, was hätte sein können oder noch passieren könnte, wird genauso wichtig, wie das, was ist.

In der Literatur und im Kino gibt es nur einige wenige gelungene Versuche, aus der situationistischen Kinderperspektive von großen gesellschaftlichen Umwälzungen zu erzählen. Gerade in den vergangenen Jahren näherten sich Filme wie „Der Junge im gestreiften Pyjama“ nach dem Roman von John Boyne oder „Lauf Junge lauf“ nach der autobiografischen Erzählung von Uri Orlev den Grauen des Nationalsozialismus mit dem Blick des Kindes an. Nun hat Caroline Link („Der Junge muss an die frische Luft“) den Jugendbuch-Klassiker „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ von Judith Kerr adaptiert. Aus der Sicht der neunjährigen Anna (Riva Krymalowski) erzählt Kerr darin von den Erlebnissen ihrer eigenen Familie, die nach Hitlers Machtergreifung 1933 Hals über Kopf flüchten musste. Ein Koffer, ein paar Kleider, zwei Bücher und ein Stofftier – so lauten die Packanweisungen der Mutter (Carla Juri). Das stellt Anna vor eine schwierige Entscheidung: Kommt ihr geliebtes rosa Kaninchen oder der Teddybär mit? Sie entscheidet sich für den Bären, während das Kaninchen bei Hitler in Deutschland bleiben muss.

Info Zwei Fortsetzungen zur Romanvorlage

Autorin Judith Kerr, Jahrgang 1923, stammte aus Berlin und lebte ab 1935 in England. Ihr Roman „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ erschien 1971 auf Englisch und 1973 erstmals auf Deutsch. 1974 wurde das Buch mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet, seitdem hat es sich hierzulande mehr als eine Million Mal verkauft. Kerr starb im Mai 2019 in London.

Bücher Auf „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ folgten die Fortsetzungen „Warten bis der Frieden kommt“ und „Eine Art Familientreffen“. In England wurde Kerr vor allem durch das Bilderbuch „Ein Tiger kommt zum Tee“ berühmt.

Annas Vater (Oliver Masucci) ist schon vor wenigen Tagen in die Schweiz gereist. Dem angesehenen Journalisten und ausgesprochenen Nazi-Kritiker drohte nach der Machtergreifung die Verhaftung. Als Anna mit ihrer Mutter und dem Bruder in Zürich ankommt, übernachten sie in einem schmucken Luxushotel. Aber das ändert sich bald. Die finanziellen Rücklagen der Geflüchteten sind knapp, und so zieht die Familie in einen Gasthof auf dem Lande. Die Berge, das Dorf, die Mitschüler, die einen schwer verständlichen Dialekt sprechen – alles ist neu für Anna, die ihr Berliner Zuhause vermisst.

Gerade als sie sich eingewöhnt hat, heißt es erneut umziehen. Für den Vater gibt es in der Schweiz keine Arbeit, und in Paris kann er für eine jüdische Exilzeitung schreiben. In einer kleinen Dachkammer-Wohnung bezieht die Familie Quartier, und Anna muss diesmal in einer ganz neuen Sprache noch einmal von vorn anfangen. Immer enger werden die Räume, in denen die Familie lebt, während sich die politische Situation in Deutschland weiter zuspitzt.

Stets auf Augenhöhe zu ihrer Protagonistin zeigt Caroline Link, welche enorme Anpassungsfähigkeiten ein Kind im Exil entwickeln muss. Dabei werden die Geschwister und die Eltern, die unter großem Existenzdruck stehen, zum wichtigsten Haltepunkt für das Mädchen. In Annas kindliche Unbekümmertheit sickern die Sorgen und Nöte stetig ein, ohne dass sie der Lebensmut und das Vertrauen in die Eltern verlässt. Denn sie hat eben jene Gabe, sich in unsicheren Zeiten an den kleinen Momenten des Glücks festzuhalten.

Wie schon in ihrem Debüt „Jenseits der Stille“ (1996) und zuletzt in „Der Junge muss an die frische Luft“ (2018) zeigt Link auch hier ihr gutes Gespür für Kinderdarsteller. Riva Krymalowski entwickelt ein beträchtliches Leinwand-Charisma, trägt den Film über weite Strecken allein auf ihren Schultern und macht die Ängste ihrer Figur ebenso sichtbar wie deren unbändige Lebenslust. Einzig die omnipräsente, deutlich überdosierte Musik navigiert dieses einfühlsame Porträt einer Familie im Exil gelegentlich in allzu sentimentale Gefilde.

Und es ist doch ein Weihnachtsfilm: Caroline Link und Anna Brüggemann haben „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ von Judith Kerr verfilmt.

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Im Februar 1933 macht das Schicksal einen letzten Versuch, Adolf Hitler einen ernstzunehmenden Gegner in den Weg zu stellen. Zorro, der Rächer der Armen, tritt gegen die Nationalsozialisten an, aber mehr als ein Abzeichen mit einem Hakenkreuz kann er nicht erbeuten. Der Maskenmann in Schwarz hat auch noch einen entscheidenden Nachteil: Er ist eine Erfindung. Er stammt aus Caroline Links Film „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“, in dem die Geschichte von Anna Kemper erzählt wird. Anna ist im Februar 1933 neun Jahre alt und hat als Kind das Privileg, die Geschichte als Spiel zu begreifen. Einmal noch sind die NS-Uniformen Maskerade wie der Umhang, unter dem sich der edle Kämpfer Zorro verbirgt. Doch noch vor der Wahl am 5. März wird es für Annas Familie ernst. Eines Morgens ist der Vater nicht mehr da, und wenige Tage später sitzen auch Anna, ihr Bruder Max und ihre Mutter Dorothea in einem Zug nach Zürich. Und die Schweiz wird nur die erste Station sein auf einer langen Flucht vor der Verfolgung durch die Nazis.

„Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ beruht auf dem gleichnamigen, autobiographischen Jugendbuch von Judith Kerr, das 1971 auf Englisch erschien und auch in der deutschen Übersetzung durch Annemarie Böll zu einem Klassiker wurde. Die Autorin starb im Mai dieses Jahres hochbetagt in London. In England fand die Familie schließlich sichere Zuflucht und Judith Kerr ein neues Zuhause und eine neue Sprache. Mit dem Blick auf die Felsen von Dover endet (weniger prosaisch als das Buch, zu dem es zwei Fortsetzungen gibt) der Film – Aufbruch und Ankommen bleiben in der Schwebe.

Eine eigene Vision

Es ist ein ungewöhnliches Motiv für einen Weihnachtsfilm, aber schon im Vorjahr hatte Caroline Link die Kindheitserinnerungen von Hape Kerkeling zu diesem Termin herausgebracht: „Der Junge muss an die frische Luft“ wurde ein großer Erfolg, und so ist es beinahe schon Tradition, dass Caroline Link dafür zuständig ist, dass das deutsche Kino zum Fest der Familie dem amerikanischen Kommerzkino etwas entgegenstellt. Nämlich eine eigene Vision von Breitenwirksamkeit ohne Spezialeffekte. Eine Dialogstelle im Film, die sich im Buch so nicht findet, scheint die nicht unmittelbar einleuchtende Verbindung des Veröffentlichungstermins und der Geschichte einer jüdischen Familie auf dem Weg ins Exil sogar mitzubedenken: Weihnachten ist für den Vater von Anna kein religiöses Fest, sondern das „Fest der Deutschen“. Die Geschichte der Assimiliation, auf die man das als Anspielung nehmen könnte, spielt in „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ aber keine weitere Rolle.

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Welche Bedeutung hat das rosa Kaninchen?

Hitlers Raubzug in Annas Kinderzimmer symbolisiert die Gewalt und den Schrecken dieser unruhigen Zeit – die Gegenwart. Der Verlust des rosa Kaninchens steht als Metapher für die den Verlust der Heimat – die Vergangenheit, und der neue Stoffhund für die Zukunft.

Ist das Buch Als Hitler das rosa Kaninchen stahl eine wahre Geschichte?

Eine wahre Geschichte über Abschied, familiären Zusammenhalt und Zuversicht. Berlin 1933: Anna Kemper ist neun Jahre alt, als sich ihr Leben von Grund auf ändert. Um den Nazis zu entkommen, muss ihr Vater nach Zürich fliehen. Seine Familie folgt ihm kurze Zeit später.

Wie Hitler das rosa Kaninchen stahl?

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl ist ein deutscher Familienfilm der Regisseurin Caroline Link, der am 25. Dezember 2019 in die deutschen Kinos kam. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman von Judith Kerr, der 1971 unter dem Originaltitel When Hitler Stole Pink Rabbit veröffentlicht wurde.

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Weiter nach Paris und London Wichtiger als die finanzielle Lage ist dem Vater allerdings die Freiheit – in Paris erfährt er, dass sein alter Freund Julius sich in Berlin nach zahlreichen Schikanen das Leben genommen hat –, und für Anna zählt nur, dass die Familie nicht getrennt wird.

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