Welche Konzepte verbergen sich hinter den Begriffen "Glaube" und "Vernunft" in der islamischen Theologie? Und wie ist es um deren Verhältnis im Islam eigentlich bestellt? Show EinleitungEin Ruf, der in Diskussionen über den derzeit als desolat empfundenen Zustand der islamischen Welt oft ergeht, ist der nach einer "Aufklärung", einer radikalen Veränderung, die eine Neubestimmung des Verhältnisses von Glaube und Vernunft mit sich bringt. Wie aber ist es um dieses Verhältnis in der islamischen Religion eigentlich bestellt? Welche Konzepte verbergen sich hinter den Begriffen "Glaube" und "Vernunft" in der islamischen Theologie?Da es sich bei der Rolle der Vernunft im Islam und ihrem Verhältnis zu Glaube und Wissen um sehr vielschichtige Probleme handelt, bedarf es hier einer breit angelegten Einführung in die islamische Geistesgeschichte der Frühzeit.
Der Text des Korans selbst soll nach traditioneller islamischer Ansicht unter dem dritten Kalifen, 'Utman (23 - 35 bzw. 644 - 655), in kanonischer Form festgelegt worden sein, vermutlich aber erst im frühen achten Jahrhundert. Die Kompilatoren der sechs großen sunnitischen Sammlungen von ahadit (Plural von hadit = Berichte über Aussagen und Handlungen des Propheten) wirkten während des dritten islamischen, d.h. des neunten christlichen Jahrhunderts. Viele Lehren, Gesetze und Interpretationen entwickelten sich erst mit der Zeit. Zwar waren die Offenbarung und das Beispiel des Propheten Muhammad offensichtliche Quellen muslimischen Glaubens und Lebens, aber wer hatte das Recht, diese Quellen zu interpretieren, mit welchen Mitteln und was folgte daraus? Ein wichtiger Unterschied zum Christentum ist hierbei die Abwesenheit von Institutionen, denen alle Gläubigen unterstehen und die über diese Fragen von rechtem Glauben und Handeln entscheiden. Freilich gab und gibt es in der islamischen Welt einflussreiche Gelehrte, an deren Meinungen sich viele Gläubige orientieren, doch ist ihre Autorität nicht unbedingt bindend. Ein wichtiger Grund, warum es heute so viele gegensätzliche Interpretationen des Islam gibt, ist die Möglichkeit jedes Gläubigen, sich das für die Auslegung der religiösen Quellen notwendige Wissen selbst anzueignen. Liberale Reformer sind daher eine genauso authentische Erscheinungsform des Islam wie radikale Fundamentalisten. Ein weiterer wichtiger Unterschied zum Christentum ist, dass die Muslime sehr früh, schon zu Lebzeiten des Propheten, erhebliche militärische und politische Erfolge erzielten. Diese brachten Machtverteilungsprobleme mit sich, in deren Zusammenhang eine Regulierung der Deutungshoheit der religiösen Quellen von entscheidender Bedeutung war.Während einige Muslime eine privilegierte Position für die Rechtsgelehrten einforderten, griffen andere bevorzugt auf die Vernunft als individuelles Erkenntnismittel zurück. Dies erlaubte es zum Beispiel Herrschern, sich auf ihre eigene Interpretation der religiösen Texte zu berufen, wie weiter unten am Beispiel des Kalifen al-Ma'mun gezeigt wird. In vielen Fällen lassen sich die Wurzeln für die divergierenden Lesarten der islamischen Lehre in der Gegenwart in Entwicklungen finden, deren erste Weichenstellungen in den religiösen und politischen Konflikten der islamischen Frühzeit liegen und die einen weiten Orientierungsspielraum für sehr unterschiedliche Grundüberzeugungen ließen. In diesen ersten zwei, drei Jahrhunderten sind nicht nur die kanonischen Quellen und dogmatischen Grundlagen festgelegt worden - wir finden hier das, was sich als islamische Theologie bezeichnen lassen kann. Prinzipiell kann also festgehalten werden, dass viele Autoren des klassischen Islam der Vernunft bzw. dem rationalen Wissen in der Religion eine große Bedeutung beimaßen. Die Vernunft ('aql) wurde dem Menschen von Gott mit der Maßgabe gegeben, sie zu verwenden. So heißt es etwa in der 38. Sure des Koran: "(Der Koran ist) eine von uns zu dir hinabgesandte, gesegnete Schrift (und wird den Menschen verkündet), damit sie sich über seine Verse Gedanken machen, und damit diejenigen, die Verstand haben, sich mahnen lassen." (Vers 29, Übersetzung Rudi Paret) An dieser und anderen Stellen im Koran wird betont, die Funktion der Offenbarung sei es, den Menschen die göttliche Wahrheit erkennen zu lassen. Manche haben dies als spirituelles Erkennen gedeutet, viele andere jedoch als rationale Einsicht. Uneins waren sich die Gelehrten hinsichtlich der Frage, auf welche Gebiete die menschliche Vernunft nicht zugreifen konnte und wo der Mensch sich lieber auf die Offenbarung bzw. Überlieferung (naql) stützen sollte, ohne weiter nachzufragen. Dieses Problem lässt sich in unterschiedlichen Disziplinen der islamischen religiösen Wissenschaften finden. Die Grundlagen des Rechts - usul al-fiqhDer Islam wird häufig als Orthopraxie beschrieben, in der das richtige Handeln im Mittelpunkt steht, im Unterschied zum Christentum, das durch eine Orthodoxie gekennzeichnet sein soll, in der es auf die richtige Lehre ankommt - eine Beschreibung, die nicht unberechtigt ist. Für einen gläubigen Muslim ist die Teilnahme am Leben in einem islamischen Gemeinwesen beispielsweise von großer Bedeutung, ebenso die Erfüllung der Rituale. Insbesondere aber kommt der Rechtswissenschaft (fiqh) eine zentrale Rolle zu, bei rituellen Fragen ebenso wie bei Problemen des täglichen Lebens, der öffentlichen Ordnung und bei solchen politischer Autorität. Das islamische Gesetz (sari'a) haben wir uns dabei als lebendige Praxis vorzustellen, nicht als kodifizierten Gesetzestext. Aufgrund der enormen Bedeutung der Rechtswissenschaft innerhalb der islamischen Religion ist diese ein wichtiger erster Anhaltspunkt für die Rolle der Vernunft. Die entscheidende Frage lautet hier: Auf welche Quellen stützt sich die Rechtswissenschaft und mit welchen Mitteln interpretiert sie diese? Im sunnitischen Islam gibt es vier Rechtsschulen (madahib), deren Entstehung auf das dritte/neunte Jahrhundert zurückgeht und die sich vor allem durch ihre Methoden unterscheiden sowie dadurch, welchen Quellen sie welche Bedeutung zumessen. Für alle vier Schulen sind der Koran und die sunna die wichtigsten Quellen. Die Malikiten orientieren sich zudem stark an der Rechtspraxis in Medina, wo sich die historischen Umstände der Prophetenzeit am besten erhalten haben sollen. Die Hanafiten stehen im Ruf, die liberalste Schule zu sein. Für sie ist das individuelle Bemühen bei der Rechtsfindung (igtihad) von großer Bedeutung.Die Schafiiten sind in dieser Hinsicht "konservativer", und die Hanbaliten schließlich halten sich am stärksten an eine wörtliche Auslegung der Quellen und gelten als die konservativste aller Gruppen. Methodenkonservatismus geht dabei mit einer konservativen Moral oft Hand in Hand, jedoch nicht immer. Selbst bei denjenigen Juristen, die dem Gebrauch der Vernunft gegenüber aufgeschlossen waren, lässt sich jedoch erkennen, dass sich hinter der Vernunft in der klassischen islamischen Tradition nicht das Konzept einer autonomen Instanz verbirgt, das uns heute so selbstverständlich ist. Für einen modernen Betrachter steht die Vernunft hier eindeutig im Dienst einer autoritätsgestützten religiösen Wahrheit. Die Grundlagen der Religion - usul ad-dinIn gewisser Weise mit den Grundlagen des Rechts verwandt sind die usul ad-din, die Grundlagen oder Wurzeln der Religion. Ein weiterer Grund, warum es heißt, der Islam sei vorwiegend eine Orthopraxie und keine Orthodoxie, ist, dass es keine Theologie im Sinne einer Dogmenwissenschaft wie im Katholizismus gibt. Das bedeutet jedoch nicht, dass es keine systematische Wissenschaft von Gott oder keine klaren Minimalanforderungen an den Glauben eines Muslims gäbe, deren Details intensiv diskutiert wurden. Mit den usul ad-din können solche Minimalanforderungen gemeint sein, von denen auch als 'aqa'id ("Glaubenssätze") die Rede ist. Wir haben es hier mit folgenden Lehren zu tun:
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