Warum hinsehen wenn man auch weg sehen kann

Viele Medien berichten immer wieder von gaffenden Menschen bei Unglücken. Die Folgen für die Opfer und die Helfenden sind katastrophal: Menschen, die auf der Straße die Rettungsgassen blockieren, kosten die Rettungskräfte wertvolle Zeit. Schlimmstenfalls stirbt ein verletzter Mensch, weil die Helfer:innen nicht rechtzeitig ankommen.

In manchen Fällen greifen Gaffer:innen Polizei, Feuerwehr oder Sanitäter:innen sogar an, verletzen sie und verzögern die Hilfe. Angestarrt und gefilmt zu werden verstört die Opfer sehr – sie fühlen sich hilflos, gedemütigt und bloßgestellt. Tauchen Bilder von Unfällen später im Netz auf, retraumatisieren diese die Opfer und auch die Angehörigen: Niemand möchte aus dem Internet erfahren, dass ein geliebter Mensch verletzt oder tot ist oder ständig daran erinnert werden.

Gaffer:innen bringen durch ihr Verhalten auch sich und andere in Gefahr: Immer wieder entstehen Staus auf der Autobahn, weil auf der Gegenfahrbahn etwas passiert ist – ein hohes Risiko für zusätzliche Unfälle. Bringen sich Gaffer:innen aus Sensationslust in eine gefährliche Lage, weil sie zum Beispiel Absperrungen übersteigen, benötigen sie im schlimmsten Fall selbst Hilfe. Das kostet die Rettungskräfte Zeit und Ressourcen, die sie für die eigentlichen Opfer brauchen.

Keine Frage, das Gaffen und womöglich noch das Filmen sind nicht akzeptabel. Dennoch kommt es immer wieder vor. Was treibt Menschen dazu?

Die Sucht nach dem Kick

Unser Nervensystem verarbeitet ständig Reize von außen. Passiert einmal nicht so viel um uns herum, ist uns eventuell langweilig. Für manche Menschen ein unaushaltbarer Zustand, den sie schnell beenden wollen, am besten durch einen Adrenalinschub. Und hier setzt nichts mehr Dopamin im Gehirn frei als ein reales Geschehen. “Reality strikes fiction”, sagt Michael Thiel. “Ein realer Unfall, wo Menschen zu Schaden gekommen sind, ist für einen Adrenalinjunkie unvergleichbar.” Für ihn sind gerade “sensation seekers”, deren Nervensystem schon sehr starke Reize braucht, um zu reagieren, potenzielle Gaffer:innen.

Diese Gewöhnung an starke Dopaminkicks ist fatal, sagt Dr. Gasch: „Wenn ich, um das gleiche Gefühl erlangen zu können, ein deutliches Mehr an Thrill brauche, ist das ein bedeutendes Merkmal von Sucht“, sagt Dr. Gasch. Denn nicht nur ein Stoff, sondern auch ein Verhalten – in diesem Fall das Gaffen – kann süchtig machen.

Hierzu hat Dr. Gasch eine weiterführende Theorie: Keine Sucht ohne Entzugserscheinungen – muss das Gehirn ohne Kick auskommen, dann werden wir aggressiv. Bei Alkohol- und anderen Drogenabhängigen ist das ein bekannter Mechanismus. Hält nun beispielsweise ein Polizist einen Gaffer von seiner „Droge“, dem Gaffen, fern, geht dieser unter Umständen auf den Polizisten los. Diese These ist noch nicht erforscht, Dr. Gasch hält sie aber für plausibel.

Die Sucht nach Anerkennung

Unser Belohnungssystem im Gehirn wird stimuliert, wenn wir positive Dinge über uns selber preisgeben. Sich selbst als Abenteurer mitten im Geschehen darzustellen, ist darum für viele verlockend. Kaum hat man dann das Video vom zerquetschten Lkw bei einem sozialen Medium der Wahl gepostet, kriegt man die ersten Reaktionen und Kommentare.

Für die Expert:innen ist das ein Zeichen für wenig Selbstachtung und Empathie und ein Weg, Aufmerksamkeit zu bekommen, egal ob positiv oder negativ. Ein Gaffer hat es Dr. Lüdke gegenüber so geäußert: „Im normalen Leben bin ich ein Niemand, im Internet bin ich jemand.“ Ähnlich formuliert es Michael Thiel: „Lieber ein bekanntes Schwein als ein unbekanntes Nichts.“ Das stellvertretende Lernen spielt dann auch wieder eine Rolle, meint Dr. Gasch. „Wenn ich sehe ‘boah, der kriegt ganz viele Likes’, dann mache ich das Gleiche.“

Auch wenn viele eigentlich wissen, dass sie sich falsch verhalten, ist der Drang nach dem schnellen Kick oft stärker. Für das Hochladen von Videos gilt das Gleiche: „Die Likes, die man bekommt, sind kurzfristig betrachtet so toll und befriedigend, da denke ich nicht daran, was mir blühen kann“, erklärt Dr. Gasch.

Wenn alle es machen, kann es ja nicht so schlimm sein

Je mehr Menschen etwas tun, umso weniger verwerflich kommt es dem Einzelnen vor. Wenn eine Gruppe sich um eine verletzte Person stellt und sie begafft oder filmt, wird dieses objektiv schlechte Verhalten für eine Einzelperson immer “normaler”: Die Verantwortung verteilt sich in der Gruppe, alle fühlen sich weniger schuldig und weniger verantwortlich, etwas gegen das Gaffen zu unternehmen.
Bekannt geworden ist dieser „Zuschauereffekt“ durch die Vergewaltigung und den Mord an Kitty Genovese 1964 in New York. Mindestens 38 Zeugen bekamen den Überfall auf sie mit, keiner kam ihr zu Hilfe. Seither haben viele Studien diesen Effekt der Verantwortungsdiffusion in Gruppen bestätigt.
Gleichzeitig steigt für uns die Hemmschwelle, etwas gegen eine Gruppe zu unternehmen, je größer sie wird. Wir sind sozial. Daher riskieren wir nicht gern, auf einmal viele andere gegen uns zu haben, vor allem nicht, wenn sie uns aggressiv vorkommen.