Was ist am 9.5 2022 in Russland?

Am heutigen Montag ist der 77. Jahrestag des Weltkriegsendes in Russland. Zugleich ist es Tag 75 des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, dessen Ende noch nicht absehbar ist. Die Ukraine kämpft ums Überleben - der russische Präsident Wladimir Putin muss um seine politische Existenz fürchten. Denn auch die russischen Verluste sind schmerzhaft, wie etwa das ukrainische Onlinemedium Tpyxa ("Beeil dich") unter Verweis auf die Parade zum 9. Mai mit grimmigem Spott meldet.

  • Zum Artikel "Russlandexpertin: 'Russlands 9. Mai lange unterschätzt'"

Materialschlacht im Geist der Geschichte

Wegen Materialmangels ausfallen wird die staatlich verordnete Feier zum Jubiläum des "großen vaterländischen Sieges" freilich nicht, im Gegenteil: Unbestätigten Meldungen zufolge plant Russland in diesem Jahr nicht nur Militärparaden in 28 russischen Städten, sondern auch einen Aufmarsch in der zerstörten südukrainischen Hafenstadt Mariupol. Beim landesweit größten Event in Moskau sollen 11.000 Soldaten und 131 Militärfahrzeuge zu sehen sein, außerdem 77 Hubschrauber und Flugzeuge.

Verteidigungsminister Sergej Schoigu erklärte die Paraden zur Leistungsschau russischer Militärtechnik: "Erstmals werden in der motorisierten Kolonne moderne Mehrfach-Raketenwerfer vom Typ Tornado-G mit 122 Millimeter Kaliber und ausgestattet mit automatischen Steuerungs- und Feuerleitsystemen über den Roten Platz rollen." Und Wladimir Putin hat zuletzt keinen Zweifel daran gelassen, dass er gewillt ist, sein Arsenal gegen "Landesfeinde" aller Art einzusetzen.

Tag des Sieges: Die Erinnerung an den "Großen Vaterländischen Krieg"

Der Tag des Sieges - wegen der Zeitverschiebung begangen am 9. statt am 8. Mai - ist in den meisten Ländern der früheren Sowjetunion nicht nur historischer Gedenktag wie der "V(ictory)-Day" der Westalliierten, sondern ein gesetzlicher Feiertag - vielleicht der wichtigste nach dem orthodoxen Neujahrsfest. Ein Tag, prall gefüllt mit Paraden, der Inszenierung von Wehrhaftigkeit, Familien- und Veteranentreffen und Volksbelustigungen aller Art – und natürlich von wechselnden geschichtlichen Narrativen mit einem festen Kern von Heldenmut und Opferbereitschaft.

Galerie: Panzer, Paraden, "Patriot Park" - Der 9. Mai im Wandel der Jahrzehnte

1941-1945: Das Leid, der Sieg und die Lehren daraus

Der Tag des Sieges ist zugleich ein Tag der Tränen. Der Überfall Hitlers auf die Sowjetunion kostete 27 Millionen Sowjetbürger und -bürgerinnen das Leben, die Belagerung Leningrads zählt zu den schlimmsten Kriegsverbrechen der Geschichte. In der Nachkriegs-Geschichtsschreibung der Stalin-Ära indes verwandelte sich der schmerzvoll errungene Sieg gegen den Aggressor in eine Art Gründungsmythos der werdenden Supermacht – und in eine Rechtfertigung stalinistischen Terrors. Der Historiker Gerd Koenen schreibt:

"Was bis dahin Terror und Willkür eines fanatischen Regimes gewesen war, nahm im Kampf gegen diesen realen Feind nun das Prädikat der 'Strenge' an, das als Attribut wirklicher, wirksamer und auch schützender Macht erschien." Gerd Koenen in 'Utopie der Säuberung: Was war der Kommunismus?'

Und auch wenn spätere Jahrzehnte das Waffenstarrende der frühen Siegesfeiern abmilderten: Anders als im Westen, wo im Gedenken des 8. Mai die Versöhnung immer breiteren Raum einnahm, blieb der 9. Mai vor allem dies: der Triumph über den Feind - den Faschismus, den Putin erst im März bei einem poppig inszenierten Auftritt in einem Moskauer Fußballstadion voll jubelnder Massen erneut als Hauptgegner adressierte.

Koenen formuliert zugespitzt, dass "die 'faschistischen Mächte' Deutschland, Italien und Japan beanspruchen dürfen, das 'sozialistische Weltlager' erst aus der Taufe gehoben und induziert zu haben". Was jedenfalls eine bemerkenswerte Umkehrung von Thesen geschichtsrevisionistischer Historiker um Ernst Nolte ist, die 1986 im Nationalsozialismus eine Reaktion auf den Kommunismus sehen wollen.

"Für eine Welt ohne Faschismus": Wladimir Putin bei der Propagandashow "Frühling auf der Krim" am 18. März 2022 im Moskauer Luzhniki Stadion.

Bildrechte: picture alliance/dpa/POOL | Sergei Guneyev

Putin: Ein Kriegsherr im Mai

Auch das Ende der Sowjetherrschaft, der Tod der meisten Veteranen und Leidtragenden des Krieges taten dem Kult um den 9. Mai keinen Abbruch. Im Gegenteil: Wer die Inszenierungen der letzten Jahre beobachtete, konnte den Eindruck bekommen, dass das Datum für den Hobbyhistoriker Putin - dessen Russlandbild einer Collage aus Schnappschüssen sowjetischer wie zaristischer Größe gleicht - von immenser Bedeutung ist; und das nicht nur, weil die Aufmärsche wieder bombastischer und martialischer geworden sind und Stalin auf den Plakaten wie selbstverständlich großen Raum einnimmt.

Für Shaun Walker, Osteuropa-Korrespondent des "Guardian", hat sich der Tag des Sieges in den zwei Jahrzehnten von Putins Herrschaft zum "Herzstück" seines Konzepts von russischer Identität entwickelt. Und die Moskauer Schriftstellerin Alissa Ganijewa analysierte schon 2017, der Tag des Sieges sei unter Putin ein "sakrales Datum" geworden: "Das Volk wird in die Ekstase des Sieges zurückversetzt, denn da stellt es keine Fragen und analysiert nichts."

Umso mehr Fragen wirft der 9. Mai 2022 im Westen auf.

Stargast Stalin: der 9. Mai 2015 auf der Krim

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Der 9. Mai 2022: "Tag der Eskalation"?

Der vom Kreml erhoffte "Tag des Sieges" jedenfalls ist es nicht, womit Putin für die erwartete Rede drei Optionen bleiben: siegesgewiss im Historisch-Vagen bleiben; die Kriegsziele so definieren, dass sie dem realistisch Erreichbaren entsprechen - oder die "Spezial-Operation" zum "Krieg", gar Weltkrieg ausweiten. Dass das verpönte K-Wort in den Medien zuletzt vermehrt Verwendung fand, stimmt wenig optimistisch, ebenso die traditionelle Flexibilität des Feindbegriffs, der es erlaubt, die gewählte Regierung des ukrainischen "Brudervolks" in "faschistische" Traditionslinien einzusortieren oder als Marionette des imperialistischen Westen zu brandmarken (oder beides).

Klar ist: eine Generalmobilmachung könnte den Krieg ins Unkalkulierbare eskalieren. Die Einberufung und sinnvolle Einbindung von bis zu 900.000 Reservisten wäre eine logistische Mammutaufgabe und würde das blutige Geschehen weit stärker ins Bewusstsein der "Heimatfront" tragen. Der Kreml wies entsprechende Mutmaßungen denn auch als "Unsinn" zurück. Allerdings: ganz ähnlich hatte Moskau im Januar Befürchtungen dementiert, Russland könnte die Absicht haben, die Ukraine zu überfallen.

Im Video: Was passiert am 9. Mai? Possoch klärt!

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Was feiert man am 9.5 in Russland?

Der Tag des Sieges (russisch День Победы, wiss. Transliteration Den' Pobedy) ist ein gesetzlicher Feiertag am 9. Mai in Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Guernsey, Jersey, Kasachstan, Kirgisistan, Moldau, Russland, Serbien und Belarus sowie am 8. Mai in Frankreich (Fête de la Victoire), Tschechien und der Slowakei.

Was feiert man am 9. Mai?

Was ist der Europatag? Der 9. Mai 1950 gilt als Geburtsstunde Europas. An diesem Tag brachte der damalige französische Außenminister Robert Schuman einen revolutionären Plan für die Zusammenarbeit der Nationen ins Spiel und legte damit den Grundstein für die heutige Europäische Union.