Was war das Besondere an Anne Franks Tagebuch?

Sie wolle nicht so werden wie ihre Mutter und andere Frauen, die ganz für Ehemann und Familie lebten, die eigene Interessen und Ambitionen aufgäben. „Ich will nicht umsonst gelebt haben wie die meisten Menschen.“ Anne Frank konnte nicht ahnen, dass sie ihren 16. Geburtstag nicht erleben würde – und dass sie mit ihrem Tagebuch unsterblich werden würde. Am 25. Juni 1947 erschien in den Niederlanden die erste, bearbeitete Fassung ihres Tagebuchs unter dem Titel „Het Achterhuis“ (Das Hinterhaus), 1950 folgten die französische und deutsche Übersetzung, 1952 die englischsprachigen Ausgaben in Großbritannien und den USA.

„Het Achterhuis“ – die niederländische Erstausgabe des Tagebuchs von Anne Frank von 1947 vor einer Auktion in Burgersdijk & Nierman in Leiden, Niederlande. (7.5.2021)

Deutsche Erstausgabe von 1955

Generationen von Schülerinnen und Schülern verbinden das Tagebuch vermutlich mit der beim Frankfurter Fischer Verlag 1955 erstmals erschienenen Taschenbuchausgabe, die sie meist in der neunten oder zehnten Klasse gelesen haben. Seit damals wurden mehr als 4,6 Millionen Exemplare allein der Taschenbuchausgabe verkauft. „Das ist ein wirklich wahnsinnig erfolgreiches Buch, das sogar regelmäßig in Bestseller-Listen auftaucht und zu den sogenannten Longsellern des Verlags gehört“, sagt Alexander Roesler, Programmleiter Sachbuch der Fischer Verlage. Soeben ist eine Jubiläumsausgabe erschienen, deren Cover an das Original-Tagebuch erinnert.

Anne wollte Tagebuch veröffentlichen

Als Annes Vater Otto Frank als einziger Überlebender der Familie aus dem deutschen Vernichtungslager Auschwitz zurückkehrte und das von einer der Helferinnen in Sicherheit gebrachte Tagebuch las, erfuhr er erstmals, dass Anne das Tagebuch veröffentlichen wollte, um Zeugnis abzulegen. „Damals wollten alle nach vorne gucken und eben nicht erinnert werden, sondern die schreckliche Zeit vergessen“, meint Roesler. Der niederländische Verlag habe allerdings sofort gemerkt: „Das ist eine besondere Stimme, die hier spricht.“

Das Haus in Amsterdam, in dem sich Anne Frank mit ihrer Familie zwischen Juni 1942 und August 1944 versteckte.

Briefe an die imaginäre Freundin Kitty

In der Tat: Neugierig, aufmerksam, empathisch, mal träumerisch, mal kämpferisch zeigt sich Anne in ihren Briefen an die imaginäre Freundin Kitty. „Wir erhalten, natürlich aus ihrer Perspektive, einen sehr guten Eindruck davon, was es für die Menschen bedeutet, auf so engem Raum zusammenleben zu müssen. Zum anderen ist sie ein normaler Teenager, eine junge Frau mitten in der Pubertät, die völlig unvorbereitet ist, auf das, was ihr da widerfährt“, sagt Sascha Feuchert, Leiter der Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der Justus Liebig-Universität Gießen. „Anne Frank war ein riesiges literarisches Talent, und das in einem sehr jungen Alter.“ Nachdenklich klingt etwa einer der letzten Einträge aus dem Juli 1944: „Ich sehe, wie die Welt langsam immer mehr in eine Wüste verwandelt wird, ich höre den anrollenden Donner immer lauter, ich fühle das Leid von Millionen Menschen mit.“

Das Tagebuch von Anne Frank – Jubiläumsausgabe zum 75 Jahrestag des Erscheinens der S. Fischer Verlage

Autorin: Anne Frank, Übersetzt von: Mirjam Pressler, Verlag: S. Fischer, 384 Seiten, ISBN: 978-3-10-397151-4, Erscheinungstermin: 27.04.2022

Herausgestrichenen Passagen wieder im Buch

Allerdings: Ein Tagebuch ist immer etwas sehr Persönliches – das stellte Otto Frank auch vor Herausforderungen, gibt es doch etwa Stellen, in denen Anne über die Konflikte mit ihrer Mutter schreibt, über ihren Blick auf die Ehe der Eltern. „Das sind Stellen, die er in der (veröffentlichten) Ausgabe eher weggelassen hat“, sagt Roesler. Zudem schreibe Anne recht offen über ihre körperliche Entwicklung, die Liebe zu ihrem Mitbewohner Peter – das wurde gerade in den 50er Jahren noch anders gesehen als heute. „Jetzt, wo die ursprünglich herausgestrichenen Passagen wieder im Buch enthalten sind, ist das Buch „authentischer"“.

Zum allgemeinen Opfer des Krieges stilisiert

„Dass der Text früh auch in Deutschland ein Erfolg wurde, hat ein Stück weit damit zu tun, dass Anne damals zu einem allgemeinen Opfer des Krieges stilisiert wurde, die Täter wurden fast vollständig ausgeblendet“, sagt Feuchert. In der ersten Übersetzung sei etwa nicht von Deutschen, sondern von Nazis die Rede gewesen. „Darüber hinaus gibt Annes Tagebuch zwar sicher Einblick in eine sehr schlimme Situation, aber es bricht dort ab, wo der eigentliche Holocaust beginnt, nämlich vor der Deportation in die Vernichtungslager.“

Stellvertretende Geschichte

Zugleich gibt Anne Frank den Opfern ein Gesicht, meint Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt. „Die Geschichte von Anne Frank und ihrer Familie steht stellvertretend für die Geschichte von sechs Millionen Jüdinnen und Juden, die im Nationalsozialismus ermordet wurden. Sie zeigt uns, wohin Antisemitismus als eine Ideologie der Ungleichwertigkeit führen kann, nämlich zu Ausgrenzung, Vertreibung und Vernichtung.“

Anknüpfungspunkte für junge LeserInnen

Seit der ersten Veröffentlichung habe sich der Blick auf Anne Frank verändert, so Feuchert. "Die „Ikonisierung“ von Anne Frank überlagert manches Mal den wirklichen Menschen, der auch voller Widersprüche war.“ Dabei seien gerade die Ecken und Kanten der jungen Frau der Anknüpfungspunkt für junge Leserinnen und Leser heute: „Anne Frank ist mit ihren Problemen, den Auseinandersetzungen mit der Mutter, dem ersten Verliebtsein ganz nahe auch an heutigen Teenagern.“

Zugang für Auseinandersetzung mit Konflikten heute

„Für Jugendliche bietet Anne, der Teenager, ein enormes Identifikationspotenzial und einen Zugang für die Auseinandersetzung mit Konflikten der Gegenwart“, sagt auch Mendel. „In ihrem Tagebuch beschäftigt sie sich mit Antisemitismus und verschiedenen Formen der Ausgrenzung, mit Fragen nach Krieg und Frieden, nach einer besseren Welt, mit Menschenrechten und Demokratie. Diese Themen sind für Jugendliche heute auch aktuell – zumal in einer Zeit, in der wieder ein Krieg in Europa stattfindet.“ Der Pädagoge betont, Anne Franks Kampfgeist und die humanistische Botschaft ihres Tagebuchs inspirierten Kinder und Jugendliche, die sich gegen Ausgrenzung und Diskriminierung empören genauso wie Erwachsene, die dem erstarkenden Rechtspopulismus etwas entgegensetzen wollten.

Niederländische Ausgabe des Buches  „The Betrayal of Anne Frank: A Cold Case Investigation“ von Rosemary Sullivan über die Ermittlungen zur Entdeckung der Untergetauchten in einem Buchgeschäft in Den Haag, Niederlande (2.2.2022)

Ermittlungen zur Entdeckung der Untergetauchten

Wie sehr das Schicksal Anne Franks und ihrer Familie noch immer bewegt, zeigt auch die Kontroverse um die „Cold Case“-Ermittlungen zur Entdeckung der Untergetauchten. Ein früherer FBI-Ermittler kam Anfang des Jahres zu dem Schluss, ein jüdischer Notar habe das Versteck „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ verraten. Nach vielfacher Kritik setzte der niederländische Verlag des Buches über diese Nachforschungen den Druck zunächst aus. Auch die auf Deutsch geplante Ausgabe ist noch nicht erschienen. Geplant ist nach Verlagsangaben eine ergänzte, korrigierte und kommentierte deutschsprachige Ausgabe. Mendel sieht in der emotional geführten Debatte auch Chancen: Sie öffne den Raum „für eine Auseinandersetzung mit Täterschaft, Mitläufertum, Widerstand und jüdischer Kollaboration im Nationalsozialismus. Auch über diese schwierigen Themen lässt sich anhand der Geschichte von Anne Frank mit Jugendlichen ins Gespräch kommen, um ihnen ein Verständnis des NS als umfassendem Unrechtssystem zu vermitteln.“

Was kann man aus der Geschichte von Anne Frank lernen?

Einblicke vermitteln. Das Anne Frank Haus sieht es als seine Aufgabe, zu zeigen, was in der Zeit des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkriegs und der Judenverfolgung geschehen ist. Es will Einblicke vermitteln, wie es geschehen konnte und was das für die Gegenwart bedeutet.

Warum wollte Anne Frank ihr Tagebuch veröffentlichen?

Als Annes Vater Otto Frank als einziger Überlebender der Familie aus dem deutschen Vernichtungslager Auschwitz zurückkehrte und das von einer der Helferinnen in Sicherheit gebrachte Tagebuch las, erfuhr er erstmals, dass Anne das Tagebuch veröffentlichen wollte, um Zeugnis abzulegen.

Was hat Anne Frank in der Welt verändert?

Es schafft Lernorte, in denen sich Kinder und Jugendliche mit Geschichte auseinandersetzen und diese mit ihrer heutigen Lebenswelt verbinden. Sie lernen gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen und sich für Freiheit, Gleichberechtigung und Demokratie zu engagieren.