Wer sich nicht impfen lässt ist ein asozialer

Impfungen gehören zu den größten Erfolgen des Gesundheitswesens unserer Zeit. In den letzten 60 Jahren wurden dadurch mehr Kinderleben gerettet als durch jeden anderen medizinischen Eingriff. Impfungen verhindern weltweit, dass sich 2,7 Millionen Menschen mit Masern infizieren, zwei Millionen an neonatalem Tetanus sowie eine Million an Keuchhusten erkranken. Die jüngeren Generationen haben keine Erinnerungen an ein Leben ohne Impfungen, ihre Großeltern hingegen durchaus.

Trotz der starken Erfolgsbilanz von Impfungen befinden sich derzeit mehrere EU-Länder und Nachbarländer in einem beispiellosen Ausbruch von durch Impfung vermeidbare Krankheiten, aufgrund von unzureichenden Durchimpfungsraten. Masernfälle verdreifachten sich in der EU zwischen 2016 und 2017, und in den vergangenen zwei Jahren starben 50 Menschen an Masern und zwei an Diphtherie.

In Deutschland gab es zwischen November 2017 und März 2018 mehr als 900 Masernfälle, einschließlich eines Todesfalls. Darüber hinaus sind in Deutschland nur 47% der über 65- Jährigen gegen die saisonale Grippe geimpft, was deutlich unter der EU-Zielvorgabe von 75% liegt.

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Es ist inakzeptabel, dass im 21. Jahrhundert Kinder in Deutschland und anderen EU-Ländern an Krankheiten sterben, die längst ausgerottet hätten sein müssen. Die Zahlen zeigen eindeutig, dass niemand von uns es sich leisten kann, selbstgefällig zu werden und Impfungen für selbstverständlich zu halten.

Angesichts der Tatsache, dass durch Impfungen vermeidbare Infektionskrankheiten nicht auf nationale Grenzen beschränkt sind und die Immunschwäche eines Mitgliedstaates die Gesundheit und Sicherheit der Bürger in der EU gefährdet, ist der Mehrwert eines gemeinsamen Vorgehens auf EU-Ebene unbestreitbar.

Der litauische Sozialdemokrat Vytenis Andriukaitis ist seit November 2014 EU-Kommissar für Gesundheit
und Lebensmittelsicherheit

Der litauische Sozialdemokrat Vytenis Andriukaitis ist seit November 2014 EU-Kommissar für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit

Quelle: pa/dpa/Julien Warnand

Um die Zusammenarbeit der EU in diesem Bereich zu verstärken, hat die Kommission am 26. April 2018 eine politische Initiative zur Bekämpfung von durch Impfung vermeidbaren Krankheiten vorgelegt. Dies ist ein Aufruf zu gemeinsamen Maßnahmen, um die Durchimpfungsrate zu erhöhen und sicherzustellen, dass jeder in der EU Zugang zu Impfungen hat. Die Initiative empfiehlt Maßnahmen, um die Hauptgründe für den Rückgang der Durchimpfungsrate in der EU anzugehen.

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Die Auswirkungen der zögerlichenReaktion auf Impfprogramme sind für uns alle ein wachsendes Problem. Menschen werden durch Fehlinformationen in die Irre geführt und Mythen, die hauptsächlich über das Internet verbreitet werden, verunsichern die Öffentlichkeit. Dies führt unter anderem dazu, dass in Deutschland zehn Prozent der Menschen glauben, dass Impfstoffe nicht sicher sind.

Als Arzt in der Kinderheilkunde kenne ich die fatale Wirkung von Fake-News über einen Zusammenhang von Impfung und neurologischen Erkrankungen. Eine Falschmeldung über Autismus geistert bis heute durchs Internet. Fakt ist: Impfen ist sicher, solidarisch und sinnvoll. Solange immer noch Kinder unnötig an Masern erkranken und sogar sterben, haben wir unsere Aufgabe nicht erfüllt: vermeidbare Erkrankungen vollständig zu verhindern.

Impfungen hätten knapp 200.000 Leben retten können

Durch Impfungen hätten in den letzten zehn Jahren Hunderttausende Leben gerettet werden können. Dennoch gibt es in Deutschland keine Impfpflicht - Frankreich ist da schon weiter.

Quelle: WELT/Thomas Vedder

Angesichts dieser Missverständnisse sollte es unser Ziel sein, die Anliegen derjenigen zu identifizieren und anzusprechen, die Impfungen für sich und ihre Familien besser verstehen wollen. Die EU-Länder und die Kommission sollten mithilfe deutlicher, transparenter und verifizierter Daten Instrumente entwickeln und Initiativen organisieren, die ehrliche Anliegen ansprechen und zeigen, dass Impfstoffe sicher, notwendig und wirksam sind.

Der wichtigste Grund für das Impfen ist vielen nicht klar. Dazu trägt auch unnötig komplizierte Fachsprache bei. Als Arzt und Journalist weise ich gerne darauf hin, dass Worte unser Denken und Verhalten prägen. Was für ein bescheuertes Wort ist „Herdenimmunität“! Wer ist denn gerne Teil einer Herde, doch nur Kühe und Lämmer.

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Wie die international wegweisenden Studien der Arbeitsgruppe von Prof. Cornelia Betsch zeigen, lassen sich mehr Menschen impfen, wenn ihnen klar kommuniziert wird: Impfen schützt den Einzelnen und die Gemeinschaft. Wer sich nicht impfen lässt, ist ein asozialer Trittbrettfahrer. Wer sich und sein Kind impfen lässt, leistet dagegen einen mitunter lebensentscheidenden Beitrag zur Gesundheit von anderen. Und dafür sollten wir ein positives Wort verwenden wie „Gemeinschaftsschutz“!

Die zögerliche Haltung gegenüber Impfungen von Beschäftigten im Gesundheitswesen ist ebenfalls ein Problem, da sie unser größtes Kapital sind, um das Vertrauen in Impfprogramme wieder aufzubauen. Es ist wichtig, dass wir in ihre Ausbildung investieren um sicherzustellen, dass die hinter Impfungen stehende Wissenschaft in den Lehrplänen der medizinischen Fakultäten in ganz Europa aufgenommen werden. Darüber hinaus sollte die Ausbildung auch nach dem Abschluss fortgeführt werden, damit Gesundheitsfachkräfte zuversichtlich bleiben können, Impfempfehlungen auszusprechen.

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Die Änderung der Impfpolitik und -fristen zwischen den EU-Ländern ist eine weitere Herausforderung. Unterschiedliche Zeitpunkte, Anzahl der Dosen usw. können bei Personen, die in ein anderes EU-Land ziehen, zur Verwirrung darüber führen, welcher Impfstoff wann eingenommen werden soll. Um die aktuelle Situation in Angriff zu nehmen, müssen die Kommission und die Mitgliedstaaten bis 2020 Leitlinien für einen zentralen EU-Impfplan aufstellen und Alternativen für einen gemeinsamen Impfausweis vorlegen, der grenzüberschreitend elektronisch genutzt werden kann.

Da der Mangel an Impfstoffen ebenfalls ein großes Hindernis darstellt und Solidarität ein zentraler EU-Wert ist, schlägt die Kommission vor, ein virtuelles europäisches Datenlager für Impfstoffbestände einzurichten, um den Austausch von Informationen über den Mangel an notwendigen Impfstoffen und verfügbaren Hilfsgütern zu erleichtern. Darüber hinaus brauchen wir auch neue Impfstoffe und müssen bestehende Impfstoffe verbessern und zusammenarbeiten, um die Impfstoffforschung und -entwicklung auf EU- und nationaler Ebene zu stärken.

Dies sind nur einige der vorgeschlagenen Maßnahmen. Da zahlreiche Menschenleben auf dem Spiel stehen, fordern wir alle Länder, Regionen, Eltern und Partner in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Forschung auf, sicherzustellen, dass EU-Bürger aller Nationalitäten und Altersgruppen von lebensrettenden Impfungen profitieren.

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Viel Forschung über Gesundheitsverhalten belegt: Die gesunde Entscheidung muss Menschen so einfach gemacht werden wie möglich. So ist es sinnvoll, in Apotheken zu impfen, wie es in vielen Ländern schon möglich ist. Auch sollte ein Kinderarzt gleich die Eltern mitimpfen können. Und der Impfpass sollte nicht auf Papier, sondern elektronisch vorliegen, mit einer klaren Erinnerungsfunktion und moderner Interaktivität.

Was mich besonders gefreut hat: Es ist wissenschaftlich sogar belegt worden, dass Humor in der Aufklärung besser wirkt als ein schlechtes Gewissen zu machen. Also statt sich verbissen auf die wenigen ideologischen Impfgegner zu konzentrieren, sollten wir die Kommunikation zu den impfbereiten großen Gruppen der Gesellschaft optimieren. Und dabei helfe ich gerne mit, denn ich weiß: Gesundheit entsteht im Miteinander. Und gute Laune sollte das einzige sein, womit ich meine Mitmenschen anstecke!

Vytenis Andriukaitis ist EU-Kommissar für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit; Dr. Eckart von Hirschhausen ist Arzt, Wissenschaftsjournalist und Gründer der Stiftung „Humor hilft heilen“.

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