Was bedeuten zeugnissprüche

Am letzten Schultag haben die Kinder meiner Klasse ihre neuen Zeugnissprüche für das kommende Schuljahr feierlich entgegengenommen. Ich habe sie ihnen vorgelesen, auf ihrem Aquarell konnten sie sie anschließend selbst lesen und nun begleiten die Sprüche sie bereits – egal, ob sie noch unbeachtet in der Schultasche schlummern oder vielleicht auch schon an einem kleinen Ehrenplätzchen stehen oder hängen. Auch mich begleiten sie.

Von der Bewegung zur Ruhe kommen

Das ist wohl das, was so ein Ferienbeginn ausmacht. Besonders auf der letzten Zielgeraden vor der Zeugnisausgabe gibt es gefühlte 1000 Dinge parallel zu tun, der Kopf ist voller Gedanken, der Tagesablauf voller abzuarbeitender To-Do-Listen.

Während ich in den letzten Wochen eines Schuljahres beim Zeugnisschreiben intensiv an jedes Kind denke, fallen mir die Sprüche quasi von selbst und auch ziemlich unvermittelt ein. Daher habe ich mein Zeugnisspruch-Notizbüchlein immer dabei. Ich schreibe dann schnell auf, was mir in den Sinn kam. In der folgenden Zeit lese ich die Sprüche immer wieder, verfeinere sie, streiche auch Manches und setze bewusst bestimmte sprachliche Mittel ein.

Einmal aufgeschrieben, werden die Sprüche also von mir immer weiter bewegt – bis ich sie auf das Aquarell des jeweiligen Kindes schreibe. Danach wird nichts mehr verändert und ich lasse den Spruch los.

Jetzt, in den Ferien, darf sich diese künstlerische Arbeit ebenso wie viele andere Dinge setzen. Zwischendurch schwirren auch die neuen Zeugnissprüche immer wieder in meinem Kopf herum und bekommen mit der Zeit eine andere Qualität. Ich bin sehr gespannt, wenn sie zum ersten Mal von den Kindern selbst gesprochen werden, wie meine Schüler:innen sie für sich ergriffen haben in diesen Wochen.

Eine kleine Auswahl

Ich werde immer mal wieder danach gefragt, die Sprüche auch zu veröffentlichen. Ich habe drei der neuen Sprüche herausgesucht. Sie sprechen drei besondere Epoche des neuen Schuljahres an: Die Erdkunde, die Pflanzenkunde und die alten Kulturen.

Jeder Spruch hat sein Kind

Doch mir ist es wichtig, an dieser Stelle auch zu betonen, dass es so etwas wie einen Lieblingsspruch nicht gibt. Jeder Spruch hat sein Kind und jedes Kind hat seinen Spruch.

Was bedeuten zeugnissprüche
Was bedeuten zeugnissprüche
Was bedeuten zeugnissprüche
Was bedeuten zeugnissprüche
Was bedeuten zeugnissprüche

„Ist er schon da?“ Das ist die Frage aller Fragen. „Natürlich ist er schon da. Dein Zeugnisspruch fürs nächste Schuljahr. Bitte male schon einmal ein Aquarell, auf das ich ihn schreiben kann.“ Zu keiner Zeit im Jahr zeigt sich so intensiv die Verbundenheit zwischen den Kindern der Klasse und mir nach außen, wie ich finde.

Jedes Kind vor dem inneren Auge

Alles, was man das Jahr über von jedem einzelnen Kind gesammelt hat – notierte Eindrücke, Arbeitsergebnisse und auch innere Bilder – das wird nun sorgsam in den Zeugnisberichten zu Papier gebracht. Die Beschäftigung mit jedem einzelnen Kind bewirkt, dass die Verbindung noch einmal mehr deutlich zu spüren ist. Und das macht auch etwas mit den Kindern. Allerdings ist gerade dieses „etwas“ nicht genau in Worte zu fassen. Jedenfalls nicht in erklärende, versachlichende Worte. Aber zum Glück gibt es ja Zeugnissprüche.

Künstlerische Zugewandtheit auf beiden Seiten

Die Beschäftigung mit jedem einzelnen Kind erreicht nicht nur mich als Lehrerin, sondern auch die Kinder auf einer sehr feinfühligen Ebene. Die Ebene, in der Kunst wirksam ist und zum Ausdruck kommt. Das gemeinsame Kunstwerk: Die Zeugnissprüche.

„Bereitet mir schon einmal ein Aquarell für den neuen Zeugnisspruch vor“

Das ist der Auftrag. Dann malt jedes Kind ganz in Ruhe und für sich. Es gilt, darauf zu achten, dass ich meinen Text gut platzieren kann. Den Rest bestimmen die Kinder selbst. Am Ende geschieht dann das ganz Besondere: Zeugnisspruch und Aquarell harmonieren miteinander, ohne sich vorab „gekannt“ zu haben:

Die Kinder haben nicht zu einem Spruch aquarelliert,
ich habe die Sprüche nach dem Betrachten eines Aquarells geschrieben.

Trotzdem passt beides zusammen.

Und wenn man gar nicht selbst schreibt?

Ich habe plötzlich Verse im Kopf, schreibe sie nieder und weiß genau, für wen sie sind. Da dies so unvermittelt geschieht, habe ich mein Notizbüchlein für die Zeugnissprüche immer bei mir. Ich schreibe nun einmal leidenschaftlich gern. Waldorflehrer:innen, die nicht selbst schreiben, sondern in Büchern die passenden Sprüche für ihre Schüler:innen finden, erleben Ähnliches. Sie lesen einen Spruch und wissen genau, für wen er ist. Von daher bin ich der Auffassung, dass Selbstschreiben und Finden-durch-lesen keine unterschiedlichen Qualitäten sind, sondern nur unterschiedliche Zugänge für eine zwischenmenschliche Ebene, die nicht nur versachlicht dargestellt werden kann.

Es ist übrigens auch diese künstlerische Arbeit, die mir beim „verkopften“ Schreiben der vielen Berichte immer wieder den Akku auflädt.

Mehr über Zeugnissprüche

Ich bin eingetaucht in Klasse 4. Wo werden die Kinder im Laufe der nächsten Monate stehen? Welche Epochen liegen vor uns? Ich habe mich auch erinnert an das 4. Schuljahr meiner eigenen Kinder. Und in dieser Stimmung kamen mir nach einigen Tagen die ersten Zeugnissprüche in den Sinn.

Was mich wieder besonders berührt, ist die sich verändernde Stimmung, die sich dann auch in den Sprüchen zeigt. Sie entsteht auch irgendwie bei mir, durch die Beschäftigung mit dem 4. Schuljahr und natürlich mit den Kindern und ihren unterschiedlichen Persönlichkeiten. So muss ich gar nicht weiter darüber nachdenken, ob ein Spruch, der mir gerade eingefallen ist, auch gefühlsmäßig in die 4. Klasse oder zu den Kindern passt.

Auf dem Weg ins 4. Schuljahr

Hier ist einer der neuen Zeugnissprüche:

Heut´ flechte ich ein buntes Band,
die Fäden führ´ ich hin und her.

leg´ es mir sorgsam um die Hand
– doch lieber geb´ ich`s für Dich her
und flechte noch so eines für mich.

Denn so ein Band als Dein und Mein
wird Zeichen unserer Freundschaft sein.

Mehr davon…

Es werden langsam immer mehr Sprüche und sie sind teilweise so anders als noch im letzten Jahr. Die Kinder haben einige Schritte gemacht.

Was ein Kind während eines Jahres in seinem jungen Leben geschafft hat

  • an Fortschritten in den Kulturtechniken – Lesen, Schreiben, Rechnen
  • an sprachlicher Gewandtheit
  • im sozialen Umgang miteinander
  • an Problemlösungen aller Art gewachsen
  • an Sachwissen gewonnen
  • Strukturen und Organisationen erlernt und selbst erarbeitet
  • an künstlerischem Ausdruck
  • an handwerklichen Fähigkeiten

Das erzählt nicht einfach mal so eben eine Ziffer von 1 – 6 !

Aus diesem Grund schreiben wir Waldorflehrer Zeugnisberichte, die das Kind individuell beschreiben und seine Entwicklung erkennen lassen. Unser Lehrplan orientiert sich schließlich an den kindlichen Entwicklungsaufgaben.

Was bedeuten zeugnissprüche

Der Zeugnisbericht ist für die Eltern!

Das ist das wichtigste Gebot. Die Kinder wissen am Tag der Zeugnisausgabe ganz genau: Für Mama und Papa ist der große Umschlag, für mich der Zeugnisspruch. Und so ist das Zeugnis auch geschrieben: An die Eltern und Erziehungsberechtigte als Adressaten.

Es ist daher überhaupt nicht sinnvoll, dem Kind in dieser „Erwachsenensprache“ vorzulesen, was die Lehrerin den Eltern über seine Entwicklung mitteilen möchte. Daher kann ich nur eindringlich davor warnen, dem Kind aus dem Zeugnis vorzulesen.

Aber Kinder wollen doch auch wissen, was darin steht..?!

Es soll ja auch kein Geheimnis sein. Doch als Eltern sollte man sich die vielen Zeugnisseiten zunächst ganz in Ruhe durchlesen und dann überlegen, was man mit dem Kind daraus besprechen – nicht wortwörtlich zitieren! – möchte. Ich wünsche mir zudem sehr, dass vor problematischen Punkten wie Geschwätzigkeit im Unterricht, regelmäßige Verspätungen nach der Pause oder dergleichen mindestens 3 Dinge mit dem Kind in liebevoller, elterlicher Ansprache mitgeteilt werden, die die Lehrerin lobend erwähnt hat.

Der Zeugnisspruch ist für die Kinder

Andersherum gilt: Der Zeugnisspruch ist für die Kinder und zeichnet das Verhältnis von Kind und Lehrerin in besonderem Maße aus. Die Kinder wissen intuitiv, wie er gemeint ist. Ich rate dringend davon ab, als Erwachsene irgendetwas interpretieren zu wollen. Meist suchen wir ja auch gern nach Kritikpunkten, aber ich kann versichern: Ein Zeugnisspruch ist etwas sehr Positives! Dieser muss gar nicht besprochen werden. Nur auf dieser besonderen Ebene zwischen Kind und Lehrerin kann er seine Wirkung voll entfalten.

Ein Beispiel: Bild und Text

Das Kind malt in Gedanken an seinen neuen Spruch ein schönes Aquarellbild, die Lehrerin schreibt einen Spruch. Beides scheint unabhängig von einander.

Doch als Bild und Spruch zusammengefügt werden, kann man das Band zwischen Kind und Lehrerin nicht leugnen. Vertrauen wir auf diese Beziehungsebene, jenseits aller intellektuellen Dinge. Diese beiden werden wohl noch einen guten Weg zusammen gehen.

Was bedeuten zeugnissprüche