Der unterschied zwischen linearen und zirkuleren denken im systemischen ansatz

Hinter dem Systemischen Ansatz steht eine bestimmte Art, die Wirklichkeit zu sehen und daraus therapeutische und beraterische Herangehensweisen abzuleiten.

Neben der Psychoanalyse und der Verhaltenstherapie ist der systemische Ansatz der am weitesten verbreitete und praktizierte Therapie- und Beratungsansatz.

Systemisches Arbeiten nimmt nicht das Individuum als defizitär in den Blick, sondern geht davon aus, dass Menschen stets versuchen, sich so an ihre Umwelt anzupassen, dass diese in ein Gleichgewicht kommt, selbst wenn dies oft ein Leiden zum Preis hat.

Im systemisches Denken kann therapeutisches oder beraterisches Handeln nicht darauf zielen, von außen gesteuerte Veränderungen herbeizuführen, sondern es ist nur möglich, Impulse in ein System zu geben, das dadurch in Bewegung kommt und möglicherweise neue, für alle Beteiligten dienlichere Konstellationen findet.

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Sie kommen über diesen Link zu einer interaktiven Website, auf der Sie einen ausführlichen Überblick über die verschiedenen Quellen und Bezüge des systemischen Ansatzes erhalten.

Geschichte des Systemischen Ansatzes

Von der Einzelperson zum System

In den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts war die Einzeltherapie die einzig akzeptierte Form psychotherapeutischer und beraterischer Praxis. An vielen Stellen der Welt begannen Fachleute, sich über die engen (und strengen) Regeln ihrer Zunft hinwegzusetzen und die Bezugspersonen ihrer PatientInnen mit in die Behandlung einzubeziehen: die Familientherapie entstand. Die Erfahrungen, die sie damals machten, erlebten die Praktiker als revolutionär. Verhaltensweisen, Symptome, die vorher als bizarr und unverständlich erschienen, zeigten sich nun durchaus als sinnvolles Verhalten in einem besonderen Kontext.

Vom Problem zur Kompetenz

Für einige Zeit war die Familientherapie hier in der Gefahr, statt einer Person nun die Familie für „krank“ zu erklären. Sie als Ganzes galt als Träger von Pathologie, der vermeintlich Kranke drückte mit seinem Verhalten diese nur aus. Heute wird diese Tendenz skeptisch gesehen, war sie doch sehr in einem Denken in Pathologien und linearen Verursachungszusammenhängen verhaftet. Doch die zentrale Erkenntnis aus jener Zeit ist in der systemischen Praxis bis heute bedeutsam: Ein menschliches „Problem“ wird nicht als „Störung“ angesehen, die eine Person hat, sondern als Qualität eines sozialen Feldes. Statt zu fragen: „Wer hat das Problem, seit wann und warum?“ kommen wir so zu einer anderen Art von Fragen, wie z.B.: „Wer ist als bedeutsames Mitglied des jeweiligen sozialen Kontextes zu sehen und wer beschreibt ‚das Problem’ wie?“

Aus der Nische …

In den 70er und 80er Jahren waren die Schranken der alten Tabus längst gefallen, Therapie mit der ganzen Familie wurde mehr und mehr selbstverständlich. Auf den Erfahrungen der Pioniere aufbauend hatte sich eine sehr ausgeprägte Form von Praxis entwickelt, die auch begann, die Grenzen der Psychotherapie zu überschreiten. Familientherapie wurde in Erziehungsberatung und Jugendhilfe zu einem selbstverständlichen Instrument, und auch in anderen Feldern setzte systemisches Denken und Handeln sich mehr und mehr durch.

… in alle Bereiche

Beraterinnen und Berater unterschiedlicher Grundberufe beschreiben die Möglichkeiten der Analyse und Intervention, die ihnen durch systemische Konzepte bereit gestellt werden, als enorme Bereicherung ihrer Praxis und so finden wir heute eine große Akzeptanz systemischen Denkens und systemischer Methoden in vielen anderen Feldern, – wo immer Menschen mit Menschen umgehen: in den verschiedenen psychosozialen Bereichen (von Psychotherapie bis Erziehungsberatung), in der Pädagogik (Schule, Heimerziehung etc.) bis hin zu Personal- und Teamentwicklung sowie Organisationsberatung und -entwicklung. So ist es nur allzu verständlich, dass bis heute systemische Ausbildungen die höchsten Wachstumsraten in der Weiterbildung aufweisen.

„Systemisch ist in!“ – und das ist gut so. Aber wird in der Unternehmensrealität tatsächlich systemisch gedacht und gehandelt? Was heißt überhaupt „systemisch“?

Grundprinzipien von systemisch

An den Anfang meines Beitrages möchte ich die Gemeinsamkeiten über die diversen Systemischen Schulen stellen. Folgende Grundprinzipien gelten über verschiedene Schulen hinweg als systemisch:

  • Menschliche Erlebnis- und Verhaltensweisen erfolgen in Zusammenhang mit und in Bezug auf andere Menschen und Umfeldkräfte.

  • Die zu betrachtende Grundeinheit ist das über das Individuum hinausgehende System (persönliche Beziehungen, Organisationen, Gesellschaft, Umwelt…).

  • Somit geht es um Wechselwirkungen und nicht nur um die Elemente eines Systems.

  • Lebende Systeme sind autonom.

  • Systeme erschaffen sich selbstorganisierend (Autopoiese).

  • Für systemisches Arbeiten gilt das Prinzip der Zirkularität. Linear-kausales Denken (Ursache – Wirkung) wird durch zirkuläres, vernetztes Denken ersetzt.

  • Alles gewinnt seinen Sinn, seine Bedeutung und seine Wirkung erst im jeweiligen Situationszusammenhang (Kontextualität).

  • Soziale Wirklichkeit wird konstruiert, Bedeutung wird gegeben (Wahr-Gebung).

  • Die Gestaltung von sozialen Wirklichkeitskonstruktionen in einem System durch miteinander verkoppelte, sich regelhaft wiederholende Beiträge in Wechselwirkung werden Muster genannt.

  • Systemische Betrachtungsweisen vermeiden die Zuschreibung von Eigenschaften zu Systemen, Systemteilen, Personen zugunsten von Aufmerksamkeit auf Beziehungen, Strukturen, Kontexte, Dynamiken und Muster.

(frei zitiert nach G. Schmidt, Liebesaffären zwischen Problem und Lösung, 2010, und M. Varga von Kibéd, mündliche Erläuterungen)

Drei Beispiele aus der Beratungspraxis

Beispiel 1: Eine Abteilungsleiterin ist unzufrieden mit einem ihrer Teamleiter. Dessen Team erreicht die Ziele nicht, hat öfters mühsame Konflikte und auch eine höhere Fluktuation als der Durchschnitt. Aus ihrer Sicht ist der Teamleiter überfordert, hat das Team nicht im Griff und kommuniziert ungenügend. Sie spielt mit dem Gedanken, den Teamleiter zu entlassen und an seiner Stelle einen fähigeren einzustellen.

Beispiel 2: Der neue Geschäftsführer eines größeren Unternehmens ist äußerst unzufrieden mit der Performance, Fluktuation und Stimmung in einer Abteilung. Er hat schon öfters der Abteilungsleitung mitgeteilt, dass er von ihr verlangt, endlich diese Situation zu verbessern, was dieser aber nicht zu gelingen scheint. Der Geschäftsführer zweifelt an den Fähigkeiten der Abteilungsleitung, stellt diese massiv in Frage, wundert sich aber gleichzeitig darüber, dass dieselbe Abteilungsleitung offensichtlich früher diese Probleme nicht hatte und sehr erfolgreich war.

Beispiel 3: Zwei Abteilungen sind im Konflikt miteinander. Sie schreiben sich gegenseitig negative Eigenschaften und Absichten zu, zweifeln an der Integrität der anderen und sind überzeugt, dass der Konflikt nicht bestünde, wenn fähigere Leute eingestellt werden würden. Den Konflikt gab es früher nicht. Seit das Unternehmen stark gewachsen ist, hat er sich zunächst unbemerkt entwickelt und eskaliert zunehmend.

Wechselwirkungen statt lineare Kausalität

Alle drei Beispiele stammen aus meiner Beratungspraxis und haben eines gemeinsam: Das Individuum bzw. die Individuen werden als Ursache für die Probleme gesehen. Dieses Denken aber ist nicht Teil der Lösung solcher Probleme, vielmehr bewirkt es in der Regel eine Verstärkung derselben. Denn kausales Ursache-Wirkung-Denken hat seinen Sinn in mechanischen, toten Zusammenhängen. So macht es Sinn, die kaputte Zündkerze als Ursache für das Nicht-Anspringen des Autos zu sehen. In lebenden Systemen aber gibt es keine lineare Kausalität. Hier sollten wir vielmehr von Wechselwirkungen sprechen und dabei ist es hilfreich, den Kontext immer mit einzubeziehen und zu berücksichtigen.

Wenn wir also Probleme definieren und ein Individuum als Ursache betrachten, ist dies aus der Tradition des linear-kausalen Denkens und dem in der westlichen Welt stark vertretenen Individualismus heraus zwar verständlich, aber es ist zu kurz gegriffen und definitiv nicht systemisch.

Dies bedeutet für die drei obigen Beispiele, dass Führung und Beratung nicht ausschließlich bei den Individuen anzusetzen haben, sondern dass es lohnend erscheint, die verschiedenen Wirkkräfte und Wechselwirkungen auf bzw. innerhalb eines Systems zu untersuchen. Selbstverständlich ist dabei das Individuum als interagierendes Systemelement zu berücksichtigen, aber wesentlich aufschlussreicher ist die Betrachtung der Beziehungsgestaltung zwischen den Individuen und den übrigen Systemelementen.

Modelle als hilfreiche Landkarten

Um dies möglichst ganzheitlich zu tun und um Orientierung für Vorgehensweisen und Entwicklungen zu bekommen, sind Modelle sehr hilfreich. Sie helfen die Komplexität zu reduzieren und Phänomene verständlicher zu machen. Jedoch – ganz im Sinne der obigen Prinzipien – ist immer zu bedenken, dass Modelle nur Annäherungen an soziale Wirklichkeiten sind und nicht mit diesen verwechselt werden dürfen (die Landkarte ist nicht die Landschaft). Modelle können dann als systemisch betrachtet werden, wenn sie verschiedenste relevante Kontexte mit einbeziehen, die Wechselwirkungen und Wirkkräfte innerhalb des betrachteten Systems deutlich sichtbar machen.

Systemisch-Evolutionäre Trigon-Modelle

Die von Trigon verwendeten Konzepte Ganzheitliches Systemkonzept und Entwicklungsphasen von Organisationen helfen dabei, einen systemischen Blick auf Organisationen zu bekommen. So wird einerseits die Dimension der Organisation mit den in Wechselwirkung stehenden und verbundenen 7 Wesenselementen (Grafik 1) genau betrachtet. Andererseits wird die Entwicklungs-Dimension einer Organisation, ihre Veränderung in der Zeit und die damit typischerweise verbundenen Herausforderungen (Grafik 2) beleuchtet, was nicht nur eine Kontextualisierung der Systemelemente und ihrer Beziehungen untereinander ermöglicht, sondern darüber hinaus die Wechselwirkungen mit dem Umfeld der Organisation und die Wirkkräfte ihrer Entwicklungsdynamik betont.

Intervention im systemischen Sinne heißt vor allem Bildung von Unterschieden. Dazu könnten bspw. folgende Fragen gestellt werden:

Ad Beispiel 1: Wie wirkt sich der Prozess der Zielsetzung auf die Zielerreichung des Teams aus? Welche Wirkung hat dies auf die Kommunikation im Team? Was wiederum bewirkt dies bei der Führung des Teams? Welchen Unterschied würde es machen, wenn die Abteilungsleiterin ihre Unzufriedenheit dem Teamleiter anders kommunizieren würde? Was würde dieser wiederum dadurch an seiner Kommunikation mit dem Team ändern? etc.

Ad Beispiel 2: Welche Auswirkungen hat die Strategie des neuen CEO auf die Abteilungsleitung? Wie wirkt sich dies auf die Führung der Abteilung aus? Was wiederum hat dies für Wirkungen bezüglich des Selbstverständnisses, der Identität der Abteilung? Wie wirkt sich das auf die Performance der Abteilung und die Belastung der Mitarbeitenden aus? Welche Wirkung hat das auf die Fluktuation innerhalb der Abteilung? Was bewirkt die Fluktuation bezüglich der Stimmung in der Abteilung und deren Performance? Was für einen Unterschied würde es machen, wenn sich die Abteilungsleitung bei den Strategie- und Entscheidungsprozessen anders einbringen könnte? etc.

Ad Beispiel 3: Welche Wirkung hat das Wachstum des Unternehmens auf die Prozesse und Schnittstellen der beiden Abteilungen? Wie wirken sich diese auf die Funktionen der Abteilung aus? Was bewirkt dies bei den Mitarbeitenden in diesen Funktionen? Welche Wirkung hat das wiederum auf die Befindlichkeit der Menschen und deren Kommunikation? Würde es einen Unterschied machen, wenn der Konflikt nicht vor allem den Menschen, sondern stärker dem organisationalen Kontext zugeschrieben werden würde? etc.

Systemische Führung und Beratung verlangt von uns, das immer noch vorherrschende linear-kausale Denken durch ein vernetztes, Wechselwirkungen einbeziehendes Denken zu erweitern. Dadurch werden wir der Komplexität von Systemen und ihren Elementen wesentlich besser gerecht. So wird ein einseitiger Individualismus, wie wir ihm heute mehr und mehr huldigen, relativiert und der Blick eher auf die Zusammenhänge und die Kontexte gelenkt, in welchen sich Individuen befinden.

Literatur zur Vertiefung

Glasl, F./T. Kalcher/H. Piber (2008): Professionelle Prozessberatung, Haupt, Bern

Glasl, F./B. Lievegood (2011): Dynamische Unternehmensentwicklung, Haupt, Bern

Schmidt, G. (2010): Liebesaffären zwischen Problem und Lösung, Carl Auer, Heidelberg

Sparrer, I./M. Varga von Kibéd (2011): Ganz im Gegenteil, Carl Auer, Heidelberg

Sparrer, I. (2009): Wunder, Lösung und System, Carl Auer, Heidelberg

Was unterscheidet systemisches und systematisches Denken?

Wie gesagt, wir erleben oft, dass die beiden Denkweisen verwechselt werden. Der Unterschied, das "at" mittendrin, wird unglücklicherweise oft übersehen. Von systematisch sprechen wir dann, wenn wir einem System folgen, nach einem System vorgehen, wenn wir also planmäßig und konsequent handeln.

Was heißt Zirkulares Denken?

Zirkuläres Denken ist ein vernetztes, Wechselwirkungen berücksichtigendes Denken, das Prozesse in angemessener Komplexität zu erfassen versucht. In dieser Sichtweise werden Ursachen und Wirkungen menschlichen Handelns und Verhaltens als zirkulär verknüpft auf- gefasst. Alles hat wechselseitig Einfluss aufeinander.

Welches sind die wesentlichen Begriffe systemischen Denkens?

Systemisches Denken: Agiles Denken und geschulter Umgang mit Wandel und Komplexität. Systemisches Coaching mit NLP sowie die Mediation sind im Kontext des systemischen Denkens entstanden. Konsequent stellen sie Eigenverantwortlichkeit, Selbstführung, Flexibilität und das Win-Win-Prinzip in den Mittelpunkt.

Was zeichnet systemisches Denken aus?

Systemisches Denken geht von der Idee konstruierter Wirklichkeiten aus und rechnet mit der Dynamik von Selbstorganisationsprozessen. Systemisches Denken und Handeln lädt ein, anders hinzuschauen, quer zu denken, Unterschiede wahrzunehmen, Vielfalt ins Spiel zu bringen.